Seit 2012 füttern Mainzer Sprachhistoriker gemeinsam mit Darmstädter Kollegen ein weltweit einmaliges digitales Familiennamenlexikon – Eintrag um Eintrag. Als Grundlage dient die Datenbank der Deutschen Telekom aus dem Jahr 2005. Ist ein Familienname hier mit mindestens zehn Telefonanschlüssen vertreten, wird der Name ins Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands (DFD) aufgenommen. Dabei zählen auch diverse Varianten mit. Doch es geht nicht nur um die reine Erfassung des aktuellen Familiennamenbestands in Deutschland. Zudem wird auch die Bedeutung der einzelnen Namen erläutert sowie mithilfe eines eigens entwickelten Kartierungsprogramms die jeweilige Verbreitung sichtbar gemacht. So ist es nicht verwunderlich, dass das Projekt auf 24 Jahre angelegt ist.
Dr. Rita Heuser öffnet die seit Mitte 2015 existierende DFD-Webseite und ruft einen Namen auf. "Nehmen wir Aydin", sagt sie. "Dieser Familienname ist nicht selten in Deutschland. Er steht in der Häufigkeit immerhin auf Rang 1.134." Auf dem Bildschirm ihres Computers erscheint eine Karte der Bundesrepublik. Rote Kreise zeigen, wo Aydins registriert sind. Vor allem in Städten und Ballungsräumen kommt der Name vor. "Im ländlichen Bereich finden wir Aydin seltener, auch im Osten kommt er kaum vor." Höchstwahrscheinlich kamen die ersten Aydins in den 1950er- und 1960er-Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Westdeutschland. Das erklärt die spezifische Verbreitung. Heuser hat noch mehr Informationen zu bieten: "Der Name bedeutet 'hell' oder 'erleuchtet'." Das ist eine der Hauptdeutungen. Die Internetseite wartet mit weiteren Interpretationen auf. Der seldschukische Fürst Aydin kann Pate gestanden haben oder eine Region in der Türkei könnte gemeint sein, auch wenn das entschieden unwahrscheinlicher ist. Ein knapper, allgemein verständlich geschriebener Eintrag gibt darüber Auskunft. Der Autor: Mehmet Aydin, Student an der JGU und wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt "Digitales Familiennamenwörterbuch Deutschlands".
"Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bringen oft eine wichtige Expertise mit", sagt Prof. Dr. Damaris Nübling vom Deutschen Institut der JGU. Gemeinsam mit Heuser, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur arbeitet, zeichnet sie in Mainz für das Projekt verantwortlich. "Wir brauchen unter anderem Kenntnisse über nichtdeutsche Familiennamen", betont die Sprachwissenschaftlerin. "Dabei können studentische Hilfskräfte mit entsprechenden Sprachkenntnissen, etwa aus dem Baltikum, aus Schweden oder aus der Türkei, eine große Hilfe sein." "Es gibt keine Region in Deutschland, in der wir nur Familiennamen deutscher Herkunft finden", betont Heuser. Die Landschaft ist bunt – wie bunt, das wird erst mit diesem Wörterbuch so richtig klar.
Das DFD ist aus dem bereits Anfang 2005 gestarteten Projekt „Deutscher Familiennamenatlas (DFA)“ hervorgegangen, in dem die JGU und die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ebenfalls den Bestand und die Verbreitung von Familiennamen in Deutschland festgehalten haben. "Das ist ein sehr linguistisches Projekt und eher für die Fachwelt gedacht", erklärt Nübling. "Während der Arbeit daran bekamen wir aber viele Anfragen von Journalisten und Privatleuten. Das öffentliche Interesse an dem Thema ist ungeheuer groß." Also sollte ein Projekt her, das auch Laien den einfachen Zugang zu neuesten Erkenntnissen der Forschung ermöglicht. So entstand also die Idee zum DFD und die TU Darmstadt kam mit ins Boot." Anfangs waren viele technische Fragen zu klären", erinnert sich Heuser. "Wir entwickelten ein digitales Konzept und mussten uns überlegen, was wir alles hineinnehmen." Zwei Jahre nahm das in Anspruch. "Dieser Aspekt wird oft unterschätzt, aber wir wussten, dass es so lange dauern würde." Hier steuerte die TU Darmstadt neben sprachwissenschaftlicher Fachkenntnis insbesondere die notwendige IT-Kompetenz zum Projekt bei. "Was als Zweckehe begann, ist zu einer Liebesehe geworden", skizziert Nübling die Kooperation der drei Institutionen mit einem Lächeln. "Inzwischen sind wir Traumpartner."
Erstaunlich wenig ist bekannt über die Familiennamen in Deutschland. Ihre Zahl wird auf 800.000 geschätzt. Davon führen die bisher vorhandenen einschlägigen Lexika bestenfalls 70.000 auf. "Dort finden wir auch noch häufig Widersprüche oder Fehler, was Herkunft oder Bedeutung angeht", sagt Heuser. Und nirgends gibt es fundierte Karten zur Verbreitung von Familiennamen. Das leistet erst das DFD und zeigt damit eindrücklich, wie wichtig die Familiennamengeografie auch für die Namensdeutung ist.
"Die Telekom-Datenbank, die wir nutzen, ist die einzige Quelle, die überhaupt zur Verfügung steht“, erzählt Nübling. „Und sie eignet sich hervorragend, da sie flächendeckend ist." Die Sprachwissenschaftler arbeiten mit dem Datensatz von 2005, da danach die Zahl der Handy-Anschlüsse stark zunahm und das Verzeichnis der Festanschlüsse somit an Aussagekraft verlor. "Wir erfassen wirklich alle Familiennamen mit mindestens zehn Telefonanschlüssen – typisch deutsche Namen wie Meyer, Müller, Schmidt ebenso wie jene mit ausländischen Wurzeln", sagt Heuser. Am Ende wird das DFD rund 200.000 Namen enthalten. Es entsteht eine Quelle, die vielen Forschungsdisziplinen nutzen kann, eine Quelle, in die jeder einfach mal reinschauen kann.
"Der in Deutschland häufigste Familienname Müller scheint vielleicht gar nicht so interessant", räumt Heuser ein. "Aber das ist nur auf den ersten Blick so." Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter des DFD-Projekts beackert gleich ein ganzes Namensfeld. Es geht im Fall Müller also auch um Neumüller oder Kumpfmüller – und plötzlich werden Kenntnisse zu Mühlentypen interessant. Auch Varianten geraten ins Blickfeld. Bei Miller könnte man annehmen, der Name stamme aus dem englischsprachigen Raum. Die Karte zeigt aber, dass die Millers vor allem in Süddeutschland zu Hause sind. Vor Ort wurde aus dem "ü" aufgrund des Dialekts einfach ein "i".
Oft stammen Familiennamen tatsächlich aus dem Ausland, doch wird es in vielen Fällen nicht mehr wahrgenommen. Die Endrulats und Wowereits etwa kamen aus dem Baltischen, Schimanski und Grabowski weisen in Richtung Polen und Schirra nach Frankreich. Die Lunkenheimer dagegen stammen aus Rheinhessen. Aber woher genau? "Der Name scheint eindeutig auf eine Siedlung namens Lunkenheim zu verweisen", berichtet Heuser. "Aber dieser Ort existiert heute nicht mehr und ist auch historisch nicht nachweisbar." Es ist eine Puzzlearbeit, die bei jedem Namen neu beginnt. "Es ist auch eine Pionierarbeit", ergänzt Nübling. Für Studierende, für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bietet diese Arbeit am DFD Chancen. "Sie übernehmen ein Namensgebiet, sind damit sofort mittendrin in der Forschung und können bei uns veröffentlichen. Die Verfasser des Artikels werden alle genannt."
Das DFD weist über die deutschen Grenzen hinaus. Kenntnisse zur Namenslandschaft im Ausland sind unabdingbar. "In den Niederlanden und in Schweden werden Familiennamen rigoros an die Rechtschreibung angepasst", nennt Heuser nationale Eigenheiten. "Dadurch gibt es dort viel weniger Schreibvarianten. Ein "Weißbrod" neben einem "Weisbrodt" wäre dort unzulässig. "Deutsche Familiennamen sind in ihrer Vielfalt also eine echte Besonderheit."
Prof. Dr. Andrea Rapp und Prof. Dr. Nina Janich sorgen dafür, dass die Benutzung des Onlinewörterbuchs in jeder Hinsicht reibungslos funktioniert. Sie vertreten die Darmstädter Seite des Langzeitprojekts. "Unser Schwerpunkt liegt auf den Digital Humanities", erklärt Rapp. Es geht darum, die Quellen der Geistes- und Kulturwissenschaften mit den Mitteln der Informatik zu erschließen. "Die Digital Humanities sind die Schnittstelle zwischen IT und Geisteswissenschaften, aber auch zwischen den einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen", so Rapp. "Hier arbeitet die TU Darmstadt als Brückenbauer."
Am Ende wird das DFD einzigartig dastehen in der Familiennamenforschung – aber eben nicht als dicker Wälzer, der im Regal verstaubt, sondern für jeden verfügbar im Internet. "Ich bin ein Verfechter von Open Access", betont Rapp. "Durch die Digitalisierung geben wir der Bevölkerung etwas zurück." Die Germanistin war unter anderem beteiligt, als die Universität Trier im Jahr 1990 begann, das Wörterbuch der Brüder Grimm für das Internet zu erschließen. "Dadurch rückte wieder ins Bewusstsein, dass die Grimms nicht nur Märchen sammelten."
"Wir haben eine neue Qualität in die Namensforschung gebracht", sagt Janich. "Wir waren gezwungen, genau zu überlegen, welche Informationen wir wie ins Netz stellen. Was ist nötig für einen Artikel über einen Familiennamen, was nicht? Wie lassen sich die Artikel so standardisieren, dass jede neue Mitarbeiterin, jeder neue Mitarbeiter sofort mit der Datenbank arbeiten kann?"
"Wir fragten uns grundsätzlich, was so ein Wörterbuch abbilden kann", erklärt Rapp. "Sollten wir auf eine starke Kategorisierung setzen oder eher eine freiere Form wählen?" Es fand sich ein Mittelweg. "Wir wollten auch absichern, dass unser DFD langfristig nutzbar bleibt. Was passiert zum Beispiel, wenn eine Firma, deren Software wir nutzen, ihren Support einstellt und das Programm nicht mehr kompatibel ist?" Um das zu verhindern, kam Open-Source-Software zum Einsatz. "Außerdem haben wir das Ganze modulartig aufgebaut." So fällt im Ernstfall nur eine einzelne Komponente aus, was leichter zu reparieren ist.
"Ein weiterer wichtiger Punkt für uns war die Zitierfähigkeit", ergänzt Janich. Das DFD wird verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen als Quelle dienen. "Aber es verändert sich ständig. Wir können einen Irrtum etwa im Beitrag zur Etymologie eines Namens schnell korrigieren. Das ist eine Stärke." Doch wenn jemand nun in seiner Arbeit eine ältere Version des DFD zitiert und nichts davon ist geblieben, nichts nachprüfbar? "Gemeinsam mit der Digitalen Akademie Mainz, die ebenfalls ihr IT-Know-how einbringt, arbeiten wir an einem Konzept, dass jede Version des Wörterbuchs eine eigene Adresse bekommt", berichtet Rapp. So kann die Editionsgeschichte nachverfolgt werden und jedes Zitat bleibt verifizierbar.
Klar ist jetzt schon: Das DFD wird im Internet Teil eines stetig wachsenden, engmaschig gestrickten Netzes werden. Es wird zitiert werden, Querverweise werden zu anderen digitalen Quellen führen. "Darüber haben wir keine Kontrolle mehr", so Rapp. "Die Digital Humanities sind eine Brücke." Jeder kann sie betreten und herabschauen auf den Strom der Informationen. Dass die Informationen überhaupt zusammengetragen werden und dass sie entziffert und genutzt werden können, dafür haben die Mainzer und dieDarmstädter bereits jahrelang gearbeitet – und sie arbeiten weiter daran. Denn so ein Lexikon im Netz ist nie vollendet.