Eine der Teilnehmerinnen des ersten RMU-Wissenschaftsabends war Grünen-Politikerin Eveline Lemke, frühere Wirtschaftsministerin des Landes Rheinland-Pfalz. Lemke zählt zu den Fellows der ersten Runde des Mercator Science-Policy Fellowship-Programms, das 2016 gestartet ist und Politiker aus unterschiedlichen Ressorts mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Rhein-Main-Universitäten zusammenbringen möchte. Beim Wissenschaftsabend kam Lemke unter anderem mit dem Neuzeithistoriker Prof. Dr. Christoph Cornelißen von der Goethe-Universität zusammen, um über ein hochaktuelles Thema zu sprechen: Vor dem Hintergrund einer unruhigen politischen Großwetterlage, in der Rechtspopulisten und Demokratiefeinde sich Gehör und Einfluss verschaffen, ist ein "Kampf um die Wahrheit" entbrannt. Lemke möchte einer schleichenden Entpolitisierung der Gesellschaft entgegenwirken, sieht auch die Wissenschaft in der Pflicht, sich politisch zu positionieren.
"Was können wir aus der Geschichte lernen, beispielsweise von jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus gewehrt und gegenseitig unterstützt haben?", fragt Eveline Lemke daher den Historiker, der sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt.
Aus der Geschichte lernen?
Cornelißen zögert etwas mit seiner Antwort: Geschichte sei kein Besteckkasten aus Lehren und Regeln, den man politisch und gesellschaftlich direkt nutzen könne, um die Fehler der Vorgängergenerationen zu vermeiden. Cornelißen stimmt Lemke darin zu, dass die Wissenschaften nicht im Elfenbeinturm verharren, sondern sich in öffentliche Debatten einmischen sollten.
"Ohne die Wissenschaft geht ein Rationalitätsanker moderner Gesellschaften verloren. Die Selbstbehauptung der Wissenschaft ist in der jetzigen Lage schon ein Erfordernis", stellt Cornelißen fest. Meinungsfreiheit ist für den Historiker ein hohes Gut: "Im Seminar und in der Vorlesung sollte im Prinzip auch jeder so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, sofern er nicht andere verunglimpft und Hassreden führt."
Cornelißen betont, dass der Hochschullehrende seinen Studierenden keine Meinungen vorzusetzen, sondern unterschiedliche akademische Gesprächs- und Austauschformen zu vermitteln habe. Faktizität habe nicht nur etwas mit Fakten, sondern mit einem rationalen Diskursverhalten zu tun. Eveline Lemke macht sich Sorgen, ob und wie mit Menschen außerhalb der akademischen Welt, die Fakten leugnen oder verharmlosen, diskutiert werden kann.
"Mit AfD-Anhängern über historische Sachverhalte zu diskutieren, ist sehr schwierig, denn sie pflegen eine bestimmte Überzeugung von historischen Abläufen, die diskursiv kaum zu korrigieren ist", gibt Cornelißen zu bedenken. "Wie kann man aber Jugendliche, die sich als abgehängt und chancenlos sehen, davor bewahren, nach rechts abzudriften?", möchte Lemke gern wissen. Der Historiker kommt an dieser Stelle auf den schulischen Geschichtsunterricht zu sprechen: Wenn sich Schülerinnen und Schüler unter entsprechender fachlicher Anleitung mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Holocaust beschäftigten, könne die Gesellschaft der Konjunktur rechter Gedanken sicherlich frühzeitig entgegenarbeiten. Ein moderner Geschichtsunterricht könne natürlich nie der alleinige Garant für das Heranwachsen von demokratisch gesinnten Staatsbürgern sein, dafür gebe es mittlerweile zu viele andere Sozialisationsinstanzen.
Cornelißen kommt in diesem Zusammengang auch auf die wachsende Gruppe von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte zu sprechen. "Wenn diese Jugendlichen zum Beispiel mit der Geschichte des Dritten Reichs konfrontiert werden, kann die Lehrkraft nicht automatisch ein instinktives familiengeprägtes Interesse an dieser Zeit wie bei deutschen Schülerinnen und Schülern voraussetzen", erläutert Cornelißen. Hier bedürfe es einer anderen Didaktik, die interdisziplinär und mit einer Sensibilität für interkulturelle Differenzen bei der Behandlung des Genozids auch auf andere historische Beispiele rekurriert.
Engagieren sich junge Leute noch? Und wofür?
Nach ihrem Gespräch mit Prof. Dr. Christoph Cornelißen macht sich Eveline Lemke auf den Weg zu Dr. Eva Ottendörfer, Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt internationale Institutionen und Friedensprozesse an der Goethe-Universität. Lemke interessiert, ob und warum sich junge Menschen heute für Politik engagieren; als Grünen-Politikerin ist sie sehr von der Friedensbewegung geprägt, vermisst aber deren Unterstützung bei Jüngeren.
Wie sieht die Frankfurter Politologin den Wandel in der politischen Partizipation? Ein starkes Engagement junger Leute sieht Ottendörfer im Bereich der Menschenrechte, wovon beispielsweise die Organisation Amnesty International ganz entscheidend profitiere. "Die Friedensbewegung hingegen müsste sich einmal der Aufgabe stellen, sich wieder neu zu erfinden und mit einem frischeren Image wieder interessanter zu werden für die heutige junge Generation", so Ottendörfer.
Wenn Organisationen die für junge Leute wichtigen Medien wie Film, Internet und Social Media bedienten, hätten sie gute Chancen, ihre Zielgruppe auch zu erreichen. Dies sei leider bei vielen rechten und fundamentalistisch- religiösen Gruppierungen zu beobachten, die oftmals erstaunlich professionell an ihrer Selbstdarstellung arbeiteten und sich als NGOs präsentierten. Eveline Lemke erinnert sich, wie die Grüne Bewegung es einst verstanden habe, junge Leute zu mobilisieren.
Eva Ottendörfer sieht die Grünen in einer schwierigen Position: Aus einer Partei, die einst auf die ökologische Krise mit einem gesellschaftlichen Gegenentwurf reagierte, sei eine geworden, die als etablierte politische Kraft selbst mit Reaktionen zu kämpfen hat, diesmal aber aus dem illiberalen Lager. Ottendörfer weist aber darauf hin, dass auch heute noch von jungen Menschen durchaus liberale Positionen vertreten und verteidigt werden: "Die proeuropäische Bewegung Pulse of Europe zeigt ja, dass nicht nur rechte Kräfte ihre Befürworter mobilisieren können." Eveline Lemke stellt abschließend die Frage: Wie könnte die Wissenschaft erforschen, an welchem Punkt demokratische Gesellschaften Gefahr laufen, sich selbst abzuschaffen? Gäbe es dafür auch empirische Verfahren, gesellschaftliche Konfliktsituationen zu entschärfen, damit es nicht zur Eskalation kommt?
Dr. Eva Ottendörfer sieht die Datenlage vorerst als Problem an; soziale Veränderungen ließen sich nicht analog zu den physikalischen Veränderungen erforschen, ein Rechtsruck sei schwieriger als der Klimawandel zu erfassen. Allerdings sieht sie beispielsweise in den Plänen für die Einrichtung einer Professur für quantitative Friedens- und Konfliktforschung einen Weg in diese Richtung. Ein erster Kontakt ist jedenfalls geknüpft, Eveline Lemke und Eva Ottendörfer gehen mit einem positiven Fazit aus dem Gespräch. "Die Begegnungen im Rahmen des Mercator Science-Policy Fellowship-Programms bringen uns voran. Sie ermöglichen es der Wissenschaft, die Perspektive der Politik zu verstehen und umgekehrt. Ich wünsche mir, dass das Programm fortgesetzt wird und sich noch viele unterschiedliche Teilnehmer gegenseitig bereichern können", betont Eveline Lemke.