Neue Weltordnung kultureller Produktion
CEDITRAA startete 2021 als Gemeinschaftsprojekt der Rhein-Main-Universitäten (RMU) in Kooperation mit der Pan-Atlantic University in Lagos. Das Projekt untersucht kulturelle Produktionen in Afrika und Asien und erforscht, welche Rolle digitale Medien bei der weltweiten Verbreitung dieser Produkte spielen.
"Im 20. Jahrhundert war die US-amerikanische Kulturproduktion dominant", konstatiert Prof. Dr. Matthias Krings vom Institut für Ethnologie und Afrikaforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "In den letzten zehn Jahren allerdings sind weitere globale Player an die Seite der USA getreten: In Asien erleben wir, wie Korea mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, in Afrika ist es Nigeria mit seiner wachsenden Filmproduktion und seiner Musik. Es gibt eine neue Weltordnung kultureller Produktion."
Mit dieser neuen Weltordnung beschäftigt sich das RMU-Projekt CEDITRAA, kurz für "Cultural Entrepreneurship and Digital Transformation in Africa and Asia", unter dessen Dach 18 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Frankfurter Goethe-Universität, der JGU und der Pan-Atlantic University im nigerianischen Lagos zusammengefunden haben. Sie gehören verschiedensten Fachrichtungen an: Neben Ethnologie und Afrikanistik sind Koreanistik, Sinologie, Film- und Wirtschaftswissenschaft vertreten. "Der interdisziplinäre Ansatz ist uns wichtig", betont Krings, einer der beiden Sprecher von CEDITRAA. "Wir wollen das Phänomen aus möglichst vielen Blickwinkeln betrachten."
Nollywood in Nigeria
Für ein Gespräch über das Projekt hat Krings seine Kollegin Prof. Dr. Ute Röschenthaler und Doktorand Tom Simmert hinzugebeten. Einen weiteren Gast stellt er gleich etwas ausführlicher vor: "Dr. Izuu Nwankwọ wird demnächst zu uns stoßen." Der gebürtige Nigerianer kam ursprünglich als Humboldt-Fellow an die JGU. "Wir sind stolz darauf, ihn dabei zu haben. Von ihm stammen einige herausragende Arbeiten über nigerianische Stand-up-Comedy."
CEDITRAA wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt. "Über die Förderlinie der Regionalstudien bekommen wir für drei Jahre 2,1 Millionen Euro", erzählt Krings. "Außerdem gibt es die Option für eine zweite Förderperiode." Das junge Projekt startete vor einem Jahr und soll noch kräftig wachsen: "Wir werden in der näheren Zukunft vor allem weitere Doktorandinnen und Doktoranden hinzubekommen." An der JGU übernimmt das Zentrum für Interkulturelle Studien (ZIS) die Koordination. Die am Projekt beteiligten Universitäten arbeiten eng zusammen und ergänzen sich in ihrer Forschung: Während in Frankfurt der Schwerpunkt eher auf Korea liegt, konzentrieren sich die Mainzer mehr auf Nigeria.
Krings selbst beschäftigt sich seit Jahren ausführlich mit der Popkultur in dem westafrikanischen Land: "In den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren baute Nigeria eine starke Filmindustrie auf, die sich schnell über ganz Afrika und dann weiter hinaus in die Welt verbreitete." Nach Hollywood und Bollywood entstand Nollywood. "Dieser Erfolg hing stark mit der Digitalisierung zusammen. Streaming-Dienste wie Netflix oder Spotify spielten eine entscheidende Rolle: 2019 etwa schaffte es der nigerianische Film 'Òlòturé' in die Netflix Top 10." Ähnliches gilt für Korea: Die Serie "Squid Game" machte über Netflix weltweit Furore. Die Konzerne hinter den Streaming-Plattformen erschlossen sich neue Märkte, häufig kauften sie lokale Mitbewerber auf. Einerseits verbreiteten sie regional gefärbte Inhalte, andererseits führte ihre Strategie zu einem Mainstreaming der Produktionen.
Afrobeats und Musikindustrie
"Nigeria schickt allerdings nicht nur Filme in die Welt", meint Krings. "Das Land hat mit den Afrobeats ein zeitgenössisches musikalisches Genre geschaffen, das ebenfalls global sehr erfolgreich ist." Dies ist Simmerts Spezialgebiet. Er schaut sich die Musikindustrie an, deren Handeln er so skizziert: "Man schließt ganz klar eine Wette darauf ab, welche Trends erfolgreich sein werden, noch bevor sie sich richtig durchgesetzt haben. Als die Afrobeats-Welle ins Rollen kam, kaufte die Industrie sich kräftig bei lokalen Labels ein und erwarb Cultural Property – geistiges Kulturgut." Die Entwicklung verlief ganz ähnlich wie in der Filmindustrie: Sie unterstützte sowohl die Verbreitung als auch die Homogenisierung von Afrobeats.
Simmert macht auf ein weiteres Phänomen aufmerksam: 2021 wurde der Titel "Love N'wantiti" des nigerianischen Singer-Songwriters C'Kay zum Welthit. Der Social-Media-Kanal TikTok hatte daran großen Anteil. "Dort können Sie eigene Inhalte hochladen und dazu eine Audiospur, die bereits auf der Plattform vorhanden ist, verwenden. So kreieren Sie eigene Videos. C'Kays Song ging auf diese Weise viral, es entstanden mehr als zehn Millionen Videos."
Röschenthaler interessiert sich für die rechtliche Dimension solcher Prozesse: Inwieweit sind Künstlerinnen und Künstler geschützt angesichts der Verwendung ihres Materials bei TikTok? Wie steht es mit der Verarbeitung in Remixes oder dem Zitat kurzer Fragmente? "Urheberrechtliche Regelungen wurden anhand der älteren Printmedien entwickelt und sind daher auf diese besser zugeschnitten", meint sie. "Bei der Musik im Zeitalter der digitalen Medien ist das anders und viel komplexer. Da stehen die Interessen der Industrie, der kulturellen Entrepreneure und der Kunstschaffenden oft gegeneinander. Es fließt zwar ein wenig Geld herüber von den digitalen Plattformen. Aber generell kann man sagen, dass große Künstlerinnen und Künstler oft mehr vom Urheberrecht profitieren als aufstrebende Talente."
Das TikTok-Beispiel illustriert recht gut die Arbeitsweise bei CEDITRAA. Traditionelle Methoden ethnografischer Forschung spielen weiter eine große Rolle, teilnehmende Beobachtung und Interviews bleiben wichtige Elemente. Daneben tritt nun jedoch die digitale Ethnografie. Sie geht weit über die Auswertung von Inhalten hinaus: "Auch hier versuchen wir ins Gespräch zu kommen", sagt Simmert. "Teilnehmende Beobachtung bedeutet in diesem Fall, dass wir etwa Leute bei der Musikproduktion begleiten. Wir schauen aber nicht nur, wir interagieren auch." Simmert schenkt Likes, kommentiert und lädt sogar als Musiker eigenen Content hoch.
Rezeption und Einfluss
Nwankwọ wird CEDITRAA um eine weitere Facette bereichern, denn Comedy spielt in Nigeria eine wichtige Rolle. "Es ist großes Business", erklärt er. "Ab etwa 1995 sind unsere Comedians hochprofessionell." Beim Start hat Nollywood geholfen, viele traten zuerst in Filmen auf und gewannen dadurch an Professionalität. Anders als beim Film und in der Musik allerdings widersteht diese Branche dem Trend zum Mainstreaming. "Viele Pointen beziehen sich auf die Dialekte nigerianischer Sprachen und ganz besonders auf nigerianische Phrasen in Pidgin-Englisch. Das lässt sich kaum übersetzen." Dennoch reicht der Einfluss der Comedians weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Sie besuchen die nigerianischen Gemeinden verschiedenster Länder und auch ihre Kunst wird über digitale Medien verbreitet.
CEDITRAA bietet vielgestaltige Einblicke in das Schaffen zweier aufstrebender kultureller Zentren: Korea und Nigeria geben der Medienwelt in den Bereichen Film und Musik viele Impulse, werden zugleich aber auch instrumentalisiert. Viele Aspekte sollen in dem Projekt noch zur Sprache kommen: Wie wird nigerianische Popkultur in Korea, wie koreanische in Nigeria rezipiert? Welchen Einfluss hat das Alte auf die Produktion von Neuem? Nwankwọ etwa wird genauer erforschen, inwieweit die nigerianische Kulturindustrie auf nicht-afrikanische Künstlerinnen und Künstler wirkt. Hier gibt es bewunderte, aber auch kritisch beäugte Nachahmungen.
"Mit unserem ersten Jahr sind wir sehr zufrieden", bilanziert Krings. CEDITRAA blieb zwar nicht unberührt von der Corona-Pandemie und ihren Folgen. "Bisher hat die Zusammenarbeit allerdings trotz – oder vielleicht sogar wegen – digitaler Kommunikation super geklappt. Wir konnten uns sehr oft und regelmäßig treffen, das wäre analog wohl kaum möglich gewesen. Auch unsere ersten beiden Konferenzen hätten wir in dieser Form nicht zusammenbekommen, was die Internationalisierung angeht." Krings atmet durch: "Ich hoffe aber, dass wir uns bald alle wieder physisch sehen können, auch wenn das Digitale sicher ein Stück weit bleibt."