Archäologie liefert Antworten auf brennende Fragen
Der Verbund Archäologie Rhein-Main (VARM) mit seinen vielzähligen Partnern will die archäologische Kompetenz im Rhein-Main-Gebiet sichtbar machen. Neben den Rhein-Main-Universitäten in Mainz, Frankfurt und Darmstadt sind die Hochschulen Mainz und Wiesbaden beteiligt, hinzu kommen das Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz, die Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts in Frankfurt am Main, die Denkmalämter der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz sowie eine Reihe von Museen. In ihrer Zusammenarbeit ergänzen sich die Partner hervorragend mit ihren jeweils eigenen Stärken und bringen neue Projekte auf den Weg, die erst im Verbund zu realisieren sind.
Zum VARM-Kick-off-Workshop im November 2015 kamen rund 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler archäologischer Disziplinen aus Mainz, Frankfurt und Darmstadt auf dem Gutenberg-Campus zusammen, um zukünftige gemeinsame Arbeitsfelder im neuen Verbund Archäologie Rhein-Main sowie Potenziale für mögliche Verbundforschungsthemen zu erkunden. Von einer noch engeren und koordinierten Zusammenarbeit versprechen sich die Partner Synergien in allen Tätigkeitsfeldern und damit eine gemeinsame strategische und zukunftsorientierte Positionierung der archäologischen Wissenschaften im Rhein-Main-Gebiet.
Dabei ist das thematische Anliegen des Verbunds Archäologie Rhein-Main hochaktuell. "Wir werden uns mit Bewältigungsstrategien der Menschheit beschäftigen", kündigt Prof. Dr. Heide Frielinghaus, Professorin für Klassische Archäologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), an. "Wie reagiert der Mensch auf Umweltveränderungen und Umweltkatastrophen? Was passiert, wenn Kulturen aufeinandertreffen? Und im persönlichen Bereich: Wie hat sich das Verhältnis des Menschen zum Tod entwickelt? Welche Mechanismen hat er entwickelt, damit umzugehen?"
"Keine andere Disziplin überblickt eine so große Zeitspanne", fügt Dr. Alexandra Busch hinzu. "Für mehr als 99 Prozent der Menschheitsgeschichte haben wir keine schriftlichen Aufzeichnungen. Da ist die Archäologie gefragt. Niemand sonst kann Kulturen und ihre Entwicklung über weite Räume und über einen so langen Zeitraum hinweg vergleichen. Wir haben die Möglichkeit, auf ungeheure Materialmengen zurückzugreifen." Die Direktorin des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz (RGZM) hält kurz inne. "Sicher, es gibt Lücken in diesem Material", räumt sie ein. Frielinghaus nimmt diesen Faden auf: "Aber wir kommen mit solchen Fragmentierungen gut klar. Das gehört zu unserem Fach", so die Mainzer Professorin vom Institut für Altertumswissenschaften der JGU selbstbewusst.
Die Archäologinnen haben sich zum Gespräch in Frielinghaus' Büro auf dem Gutenberg-Campus getroffen. Replikate antiker Büsten schauen vom Bücherregal hinter ihnen herab, während sich die beiden Wissenschaftlerinnen in rasantem Tempo den Ball zuspielen. Sie ergänzen sich hervorragend – und genau darum soll es beim Verbund Archäologie Rhein-Main gehen, nur in einem entschieden größeren Rahmen.
Der ursprünglich von sieben Institutionen im Rhein-Main-Gebiet gemeinsam angeregte Verbund stellte auf seiner ersten Auftaktveranstaltung im November 2015 sein Verbundforschungsprojekt "Bewältigungsstrategien – Widerstandskraft – Anpassungsfähigkeit" vor. Zugleich bildeten sich verschiedenste Arbeitsgruppen. "Unter anderem sind ein Geo- und ein Biomethodencluster sowie eine Gruppe zur Spätantike entstanden", erzählt Busch. "Sie haben ihre Arbeit bereits aufgenommen. Das Ganze entwickelt eine große Dynamik."
"Mit dem VARM schaffen wir ein gemeinsames Dach, unter dem verschiedenste Bausteine eingefügt werden können", erklärt Frielinghaus. Die großen Steine sind die Universitäten in Mainz, Frankfurt und Darmstadt. Hinzu kommen die Hochschule Mainz und die Hochschule RheinMain sowie das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz (RGZM) und die Römisch-Germanische Kommission (RGK) des Deutschen Archäologischen Instituts in Frankfurt am Main, die Landesdenkmalämter Hessen und Rheinland-Pfalz sowie diverse Museen in der Region. Jeder einzelne Partner liefert wiederum eine Fülle von kleineren Bausteinen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise kombinieren lassen.
Dass so etwas gut funktioniert, haben die VARM-Partner bereits in der Vergangenheit bewiesen. "Wir blicken bereits auf eine Fülle von bilateralen Kooperationen. So bietet die JGU zum Beispiel schon seit dem Wintersemester 2007/2008 gemeinsam mit dem RGZM den dualen Bachelorstudiengang Archäologische Restaurierung an", berichtet Busch. "Schließlich ist das RGZM nicht nur Museum, sondern ein außeruniversitäres Forschungsinstitut", fügt Frielinghaus an. "Es hat seine eigenen Restaurierungswerkstätten und Forschungsbereiche. Davon profitieren unsere Studierenden."
Für die Zukunft ist ein weiterer Schwerpunkt im Bereich der Archäometrie geplant. "Die Frankfurter sind unter anderem Spezialisten auf dem Gebiet der genauen Bestimmung von Keramik", berichtet Frielinghaus. "Wir in Mainz konzentrieren uns auf Erd- und Gesteinsanalysen. Beides ergänzt sich wunderbar."
Mit dem VARM sollen derartige Kooperationen weiter vernetzt und auf eine noch solidere, breitere Basis gestellt werden. "Es geht uns dabei nicht nur um die Forschung", sagt Busch. "Wir wollen den Nachwuchs und die Lehre fördern. Wir wollen ganz neue Formate und Infrastrukturen schaffen für unsere Zusammenarbeit." Und Frielinghaus ergänzt: "Auch die Öffentlichkeitsarbeit ist uns wichtig. Wir wollen noch sichtbarer werden mit unserer Forschung und unseren Themen."
"Wir haben im Rhein-Main-Gebiet eine ungeheure Dichte von archäologischen Forschungseinrichtungen. Das ist nahezu einmalig in Deutschland", betont Busch. "Da können nur wenige mithalten." Das sind beste Voraussetzungen, um Antworten auf wichtige Fragen zu finden. "Wir schauen auf die Geschichte wie auf einen Langzeitversuch", sagt Frielinghaus. "Wir können untersuchen, wie Kulturkontakte verlaufen, wie Integration funktioniert oder eben nicht. Wir erforschen, wie Menschen mit von Menschen geschaffenen Faktoren klarkommen. Wir können Antworten geben."
Prof. Dr. Dirk Wicke hat sein Büro auf dem Frankfurter Campus Westend noch nicht lange bezogen. An einer Schranktür hängt noch das Plakat zu seiner Antrittsvorlesung: "Vom Oberen und Unteren Meer – Schiffe und Boote im Alten Orient". Im Januar 2015 wurde Wicke auf die Professur für Archäologie und Kulturgeschichte des Vorderen Orients am Institut für Archäologische Wissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main berufen. Zuvor arbeitete er zehn Jahre an der JGU.
Wicke koordiniert die VARM-Aktivitäten. "Es geht vor allem um eine Bündelung und Sichtbarmachung der Kompetenzen. Das ist meine Motivation, dabei zu sein." Er sieht dabei nicht nur den großen Zusammenhang, er bezieht das durchaus auch auf seinen Arbeitsalltag. "Um zu wissen, wen ich zu welchen Themen ansprechen kann, muss ich schlicht wissen, wer was macht. Bisher gibt es zwar einzelne und auch langjährige Kontakte zwischen den Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen Institutionen, aber man kennt einfach nicht jeden."
Auch in der Lehre sieht Wicke eine Bereicherung durch den neuen Verbund. "Die archäologischen Fächer an den drei Rhein-Main-Universitäten sind kleine Fächer, das Lehrangebot ist begrenzt. Mit dem Verbund zielen wir auf eine Ausdehnung und vor allem eine Differenzierung des Angebots je nach Studienfortschritt ab." Studierende im Rhein-Main-Gebiet könnten von den Veranstaltungen aller Hochschulen in der Region profitieren. "Wir machen uns in dem Zusammenhang Gedanken über neue Lehrformen und -formate. Wir denken etwa über E-Learning und Blended Learning nach, über gemeinsame Blockseminare und Ähnliches."
Auch für Prof. Dr. Franziska Lang knüpfen sich viele Erwartungen an die Gründung des Verbunds Archäologie Rhein-Main. Ein Aspekt liegt ihr dabei ganz besonders am Herzen, der an Wickes Ausführungen anschließt: "Ich hoffe, dass wir es mit unserer Kooperation schaffen, einen gemeinsamen Lern- und Lehrraum zu entwickeln, der in seiner Vielfalt ganz den Studierenden zur Verfügung steht. Auf diese Art können wir sie viel besser als bisher auf die wachsenden Herausforderungen vorbereiten, denen sich Archäologinnen und Archäologen heute gegenübersehen."
Die Professorin für Klassische Archäologie am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt blättert in einem Band mit Fotos der antiken Oasenstadt Palmyra. "Wir denken in unserer Disziplin immer stärker ganzheitlich. So ist Archäologie beispielsweise ein Fach, das auf die meisten erst mal gar nicht politisch wirkt. Dennoch haben wir uns auch mit politischen Fragen auseinanderzusetzen."
Die Zerstörungen, die der sogenannte Islamische Staat im Jahr 2015 in Palmyra anrichtete, gingen durch die Presse. "Hier wird versucht, eine kulturelle Identität zu zerstören. Zeugnisse der Antike werden für politische Zwecke missbraucht. Mit solchen Vorgängen sieht sich die Archäologie sehr direkt konfrontiert." Mit Blick auf die gesamte Region meint Lang: "Dort entstehen neue Machtkonstellationen, zu denen wir uns verhalten müssen, weil man mit neuen Anforderungen und Erwartungen konfrontiert wird. Von der Archäologie ist Vielseitigkeit gefordert", betont sie.
Diese Vielseitigkeit kann der Verbund Archäologie Rhein-Main in besonderem Maße fördern, davon ist Lang fest überzeugt: "Neue Kooperationen werden uns neue Horizonte eröffnen. Wir können ein Raum werden, der sowohl für Studierende als auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr attraktiv ist, denn wir bieten völlig neue Möglichkeiten."